Dr. Uwe Wieczorek, Kurator Hilti Art Foundation, Dr. Friedemann Malsch, Direktor Kunstmuseum Liechtenstein, Meinrad Morger, Morger + Dettli Architekten, und Michael Hilti, Präsident Hilti Art Foundation, Foto: Eddy Risch

„Museen sind Orte, die dem Verschwinden entgegenwirken“

Dr. Uwe Wieczorek zur Eröffnung der Hilti Art Foundation

Seit ihren Anfängen vor knapp einem Vierteljahrhundert hat die Sammlung der Hilti Art Foundation sowohl quantitativ als auch qualitativ ein Niveau erreicht, auf Grund dessen es allen für das Gedeihen dieser Sammlung Verantwortlichen, in erster Linie dem Sammler Michael Hilti und seiner Familie, ebenso angemessen wie wünschenswert erschien, ihr nun einen dauerhaft zugänglichen Ort in der Mitte der Gesellschaft zu geben.

Christian Morgenstern meinte zwar einst in einem seiner geistreichen Gedichte, dass alles Feinste privat bliebe, doch auch er wird gewusst haben, dass gerade die Kunst ihren höheren Sinn erst in der öffentlichen Wahrnehmung, Beurteilung und Diskussion erfüllt. So wird mit der Eröffnung des neuen Ausstellungsgebäudes der Hilti Art Foundation einer »res privata« fortan auch der Charakter einer »res publica« verliehen. Dies ist umso erwähnenswerter, als eine liechtensteinische Sammlung von internationalem Rang diesem Land somit nicht nur erhalten bleibt, sondern den hier lebenden Menschen auch sehr bewusst zu sinnlicher Freude und geistiger Anregung dienen möchte.

Freilich bedurfte es zusätzlicher und wohlwollender Umstände, um dieses Projekt Realität werden zu lassen: die Partnerschaft zweier Bauherren, die Kooperation mit dem bestehenden Kunstmuseum und die Bereitschaft der öffentlichen Hand, sich mit den ihr möglichen Mitteln daran zu beteiligen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Vor uns steht ein sowohl elegantes als auch zweckmässiges Werk der Architektur von Morger + Dettli, in dem 50 ausgewählte Kunstwerke aus dem Bestand der Hilti Art Foundation zu sehen sind, die vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart führen.

Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts mahnte Paul Cézanne, der grosse französische Maler, dass man sich beeilen müsse, wenn man noch etwas sehen wolle, denn alles würde ver- schwinden. Das wenige Sehenswerte, dass es künftig noch gebe, werde aber wohl ausreichen, das Herz und die Sinne zu erfreuen. Diese Mahnung bezog sich vor allem auf das Ver- schwinden natürlicher Landschaften, auch von Kulturdenkmä- lern. Derzeit etwa liesse sich an Palmyra in Syrien denken, das unwiederbringlich zu verschwinden droht.

Museen sind Orte ─ oder sollten es sein ─, die dem Verschwinden entgegenwirken, in denen unterschiedlichste Zeug- nisse aus Vergangenheit und Gegenwart erhalten, gepflegt und sichtbar in die Aktualität gestellt werden. Grosse Kunst, gleichgültig welchen Ursprungs, ist immer aktuell. Das ist auch hier, im neuen Haus, erkennbar, wo sich nun erstmals in eigenen Räumen Werke der Malerei und Plastik, die über Jahrzehnte mit Sachverstand, Beharrlichkeit, vergnüglicher Lust und einer gewissen Prise Glück gesammelt wurden, zu einem ästhetischen und, ungeachtet vieler Lücken, auch inhaltlichen Ganzen wunderbar zusammenfinden.

Es ist das spezifische Merkmal einer Privatsammlung, dass sie das individuelle Interesse des Sammlers reflektiert, seinen ganz persönlichen Geschmack und Zugang zur Kunst. Das trifft auch auf die Sammlung der Hilti Art Foundation zu. Sie weist, aus dem Bedürfnis nach dem Schönen, das alles Hässliche ausschliesst, neben dem Schönen jedoch auch das Abgründige zulässt, ein hohes Mass an sinnlicher Qualität auf. Zugleich aber entwickelt sie sich unter bewusster Wahrnehmung der stilistischen und konzeptuellen Veränderungen der Kunst innerhalb des gezielt ins Visier genommenen Sammlungszeitraumes, in dem Werke des Expressionismus, Kubismus, Futurismus und Surrealismus sowie der konstruktiven und konkreten Kunst zunehmend deutlicher werdende Schwerpunkte bilden.

Gemäss den drei Etagen des neuen Gebäudes ist die Ausstellung in drei Themen unterteilt: »Mysterium Mensch«, »Experiment und Existenz«, »Immanenz und Transzendenz«. Das erste Thema konfrontiert mit unterschiedlichsten Erscheinungsformen des Menschen in der Zeit von circa 1910 bis 1970, von Wilhelm Lehmbruck bis Willem de Kooning, und bildet den Anfang der Ausstellung im Untergeschoss des Gebäudes. Es verweist auf einen wichtigen inhaltlichen Aspekt der Sammlung: Der Mensch als Wunder und Rätsel zugleich, als Subjekt und Objekt, in seinen weiblichen und männlichen Ausprägungen, unterworfen der Bipolarität von Materie und Geist, den glücklichen wie auch quälenden Wechselfällen des Lebens und der Geschichte. Auf Max Beckmanns Selbstbildnis von 1936 sei hier gesondert hingewiesen, auf unsere jüngste Neuerwerbung, die uns mit Freude und Stolz erfüllt. Beckmann präsentiert sich als Individuum, das sich in einer Zeit kollektiver Verblendung sowie schlimmster privater Bedrängnis in die Pflicht nimmt, wahr zu sehen und wahr zu sprechen ─ ein Zeugnis menschlicher Grösse, welches darauf verweist, dass unter dem Vorzeichen höchster Gefahr nicht allein das Prinzip der Sicherheit gilt.

Das zweite Thema im 1. Obergeschoss veranschaulicht die sowohl experimentellen als auch existentiellen Positionen der klassischen Moderne von circa 1880 bis 1950, von Georges Seurat bis Alberto Giacometti. Es zeigt, mit welch unterschiedlichen Haltungen und Ausdrucksmitteln die Künstler auf die Entgrenzung natur- und geisteswissenschaftlicher Kenntnisse, auf die Entfesselung von Technik und Wirtschaft, auf Katastrophen und die damit einhergehende Veränderung der Welt reagiert haben. Was immer sie schufen ─ stets warfen die Künstler ihre ganze Existenz in die Waagschale, und keiner von ihnen unterlag, wie Thomas Mann in anderem Zusammenhang so treffend formulierte, dem “Irrtum, dass man ein Blättchen pflü- cken dürfe, ein einziges, vom Lorbeerbaume der Kunst, ohne mit seinem Leben dafür zu zahlen.“

Das dritte Thema im 3. Obergeschoss umfasst Kunst nach 1950 bis zur Gegenwart, von Josef Albers bis Imi Knoebel. Eine andere, leichte, ja geradezu heitere Atmosphäre bestimmt nun den Raum und verdeutlicht die historische Zäsur gegenüber allem Vorangegangenen. Immanente Fragen werden an das Kunstwerk, an Bild, Relief und Objekt, gestellt, an die Tatsäch- lichkeit von Material, Fläche, Raum und Licht, von Form, Farbe, Bewegung und Rhythmus. Doch hinter aller empirischen Wirk- lichkeit scheinen plötzlich auch Möglichkeiten einer allein mit nicht-abbildhaften Mitteln bewirkten Grenzüberschreitung auf, vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, vom Stofflichen zum Geis- tigen, vom Immanenten zum Transzendeten.

Cézanne hatte seine eigene Methode, dem Verschwinden des Sichtbaren entgegenzuwirken. Er ging nahezu täglich und mit Demut zum, wie er es nannte, “Motiv“, insbesondere zur Montagne Sainte-Victoire in der Provence ─ als Berg per se ein “Monument der Dauer“. Durch die zahlreichen Bilder, die er von diesem Berg schuf, verlieh er ihm eine zusätzliche Dauerhaftigkeit und den Einlass in die besten Museen der Welt. Ich stelle mir vor, wie, im vergleichbaren Sinne, die Liebhaber und Lieb- haberinnen der Kunst, im Land und weit darüber hinaus, nahezu täglich, zumindest aber so oft wie möglich, hierher zu ihrem “Motiv“ kommen, um sich von ihm sinnlich erfreuen und geistig anregen zu lassen. Die wohltuende Länge der Ausstellungs- dauer, ab dem heutigen Tag bis zum 9. Oktober 2016, mag sie in dieser Absicht unterstützen, denn auch Museen tragen durch ihre Ausstellungsbetriebsamkeit nur allzu oft zum Verschwinden des Sichtbaren bei.

 

Dr. Uwe Wieczorek ist Kurator Hilti Art Foundation.

Das Bild zeigt Dr. Uwe Wieczorek, Kurator Hilti Art Foundation, zusammen mit Dr. Friedemann Malsch, Direktor Kunstmuseum Liechtenstein, Meinrad Morger, Morger + Dettli Architekten, und Michael Hilti, Präsident Hilti Art Foundation.

Bildrechte Gruppenfoto: Eddy Risch

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Von am 24.05.2015 unter Destinationen, Events & Veranstaltungen veröffentlicht.